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Der Cristo Redentor breitet seine gewaltigen Arme schützend über die sich zu seinen Füßen erstreckende Metropole. Rio de Janeiro. Doch der malerische Klang dieser Worte bezeichnet nur einen Teil der Wirklichkeit, der Rest bleibt Deinen Augen, die nur sehen was sie von Postkarten und Bildern schon kennen, verborgen. Konzentriert man sich nur auf die blanke Kuriosität des Moments und begegnet man diesem Eindruck unbefangen und isoliert, dann erscheint die in trüben Dunst getauchte Millionenstadt wie ein überdimensionales Mahnmal inmitten tropischer Vegetation. Weit über den Dächern Ipanemas genießen die Touristen die vom gedämpften Stimmengewirr und Klavierspiel untermalte Kerzenlichtatmosphäre. Das Restaurant im Obergeschoß eines der zahlreichen Hotels, wie sie sich an der Promenade Ipanemas hundertfach aneinander reihen, bietet Dir einen grandiosen Blick auf das Großstadtpanorama und den naheliegenden Strand. Über den Spitzen der von den Fenstern aus unsichtbaren Hügelketten segelt die Sonne wie alle anderen dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr ihrem Ende entgegen und taucht die von ihr erreichten Fassaden in kräftiges Orangerot. Du bist zufrieden, Deine Erwartungen wurden erfüllt, wenn nicht sogar haushoch übertroffen und die Illusion, dass alles, dass sich unter dem Wolkenkratzer erstreckt, Rio ausmacht, erfüllt Dein Gemüt mit Heiterkeit, denn Du hast etwas zu erzählen. Du weißt jetzt, wie sich Rio anfühlt, wie diese faszinierende Stadt funktioniert, was sie ausmacht und wo Du die besten Caipirinhias trinken kannst. Schließlich möchtest Du für Dein Geld etwas geboten bekommen.
Den besten Ausblick über den Asphaltdschungel und die dazugehörigen Buchten hat man jedoch von den Favelas. Jene rostroten Labyrinthe aus ineinander verschachtelten Ziegelbauten, die wie ein Meer aus Wellblechdächern in den Hängen der Hügelketten, dicht über den Häusern Ipanemas oder Leblons, kleben und auf die Nobelviertel der Stadt hinabschauen. Hast Du mal genau hingesehen? Der Kontrast zwischen Armut und Reichtum könnte kaum massiver sein, und dennoch findet sich beides dicht nebeneinander, getrennt durch eine einzige, unheilvolle Straße, die als stillschweigende Grenze fungiert. Nur ein paar Meter hinter der Frühstückspension beginnt ein Leben geprägt von Angst, Gewalt und moralischem Verfall. Schwer bewaffnete Jugendliche patrouillieren Tag und Nacht wie zähnefletschende Bluthunde an der unsichtbaren Linie zwischen den beiden Kontrahenten. Aufgewachsen in einem so banal kaputten Umfeld, dass ihnen selbst der Gedanke an den frühen Tod keine Angst mehr einjagen kann, stehen sie hier mit gestrafften Schultern und verwegenem Blick, wie Imitatoren eines Actionfilmes. Das ist es doch, was Du denkst, nicht wahr? Was ist das für ein Gefühl, das Dich verstummen lässt? Ist es Angst? Die Stadt ist in ihrem Innersten zerrissen, Vertrauen ist für die meisten Cariocas ein Fremdwort, vor allem wenn es um die vagen, immer wieder getätigten und gleichwohl immer wieder gebrochenen Versprechen der Politiker geht. Das flackernde Bild des Röhrenfernsehers überträgt stückweise die Rede des neuen Bürgermeisters, der soeben mit stolz geschwellter Brust verkündet, dass Rio de Janeiro Austragungsort der Fußball WM wird. Im Anschluss daran die Nachrichten: "Es sieht so unschuldig aus wie Süßigkeiten, aber es macht unsere Städte zu Schlachtfeldern und ermordet unsere Kinder", sagt der Polizeichef im Interview, ein Paket Crack in der Hand schwenkend.
Nachts zerreißen Schüsse die Luft, hallen von den kalten Wänden der Häuser wieder und erzeugen den obskuren Klang des mit ihnen einhergehenden Todes. Der Mond schielt wie ein Totenkopf mit dunklen, leeren Augenhöhlen zwischen den Wolken hindurch und die Einwohner, die in Gefahr laufen, zwischen die Fronten zu geraten, flüchten sich panisch in ihre spärlichen Behausungen. Einschusslöcher zieren die unfertigen Fassaden, Spuren von vergangenen und längst vergessenen Kriegen. Die Clave hat wieder zugeschlagen, es fließt Blut. Im Morgengrauen hört man die schweren Stiefel, leichtfüßig wie eine Elefantenkarawane, über den Zement stapfen. Blitzartig verwandelt sich die Hauptstraße der Favela abermals in ein purpur schraffiertes Schlachtfeld. Dunkle Gestalten suchen im Schutz der Dämmerung nach Deckung, als der Kugelhagel andauert, während immer mehr Uniformierte in die Favela strömen. Polizisten gegen Gangmitglieder. Reiche gegen Arme. Erwachsene gegen Kinder. Später wird auf dem höchsten Punkt der Favela die brasilianische Flagge gehisst, im sanften Wind wehend demonstriert sie die Macht des Staates: Wir haben dieses Viertel zurück erobert. Du siehst sie wehen, es scheint ein friedlicher Akt. Doch Blut, Hass, Wut und unzählbar viele Leichen säumen ihnen den Weg zurück in die Elendsviertel, von den Opfern des Drogenkriegs wird in den Zeitungen nicht berichtet werden. Die ersten Sonnenstrahlen wabern schleichend über den Horizont und erzeugen ein Bild des beschämenden Ausmaßes des letzten Großeinsatzes; Ein Bild davon, wie fatal die Zustände in den Armenvierteln Rios wirklich sind. Ein Bild das so schwer zu ertragen ist, dass Du am liebsten die Augen schließen möchtest und gleichzeitig ein Bild das der harten Realität entspricht. Und jetzt? Was fühlst Du jetzt?